Geologische Zeitalter, magisch bewahrt
von Jürgen Buchinger
Im Fokus: ‚I gradini mangiano la scala o la scala mangia i gradini,‘ 1995, von Mario Merz, Stahl, Stein, Glas, Neonzahlen und Schraubzwingen 250 × 916 × 840 cm
„Such das Ur-Haus
Such das halbsphärische Haus
Such das vollkommene Modell einer Hausidee“1
Unbearbeiteter Stein, gefundenes Holz, Bruchglas. So etwas wie eine Ursprünglichkeit oder Archaik in den Materialien, die wohl Auslöser war, diese Materialität eine ärmliche zu nennen, entsteht nicht aus dem Material selbst, sondern daraus, dass es sich um nicht raffinierte Materialien handelt. Gefundene Bruchstücke, vom Menschen sich zwar angeeignet und verwendet, aber nicht mehr verändert. Trouvaillen der urbanen Landschaft, fehlerhafte Glasscheiben und unregelmässig abgebrochene Steinplatten, Drahtgitter und Plastikplanen. Manche Iglus von Mario Merz muten wie Unterschlupfe an, die mit Materialien aus ihrer Umwelt errichtet wurden, mehr provisorisch als auf Dauer angelegt; wie urbane Baumhäuser oder Bandenlager anstatt mit Zweigen und morschen Brettern, mit dem Unterholz der Industriegesellschaft gebaut. Doch sie haben keine Eingänge, verschliessen sich vor dem Aussen und fassen ihr Inneres daher umso sicherer in sich. Man fragt sich unwillkürlich, was denn in ihnen ist. Oder wer in ihnen hausen sollte.
Ganz anders I gradini mangiano la scala o la scala mangia i gradini von 1995 bei Raussmüller in Basel. Das 2.5 Meter hohe Iglu mit einem Durchmesser von fünf Metern ist mit Steinplatten gedeckt, bleibt aber abgesehen vom Dach rundherum offen. Sechs organisch geformte Tische aus Stahlrohr mit passend geschnittenen Glasplatten laufen aus dem Iglu heraus und erstrecken sich weit in den Raum hinein. In der Mitte des Iglus sind Steinplatten kreisförmig aufgestellt und an die Enden der Tische gelehnt. Alle drei Arten von Gesteinen sind vorhanden und können ihre spezifischen Eigenschaften entfalten. Sedimentgesteine, die während ihrer langen Entstehungszeit viele verschiedene Schichtungen aufgebaut haben, tragen in sich die Geschichte geologischer Zeiträume. Dabei entsprechen die Grenzflächen übereinander liegender Schichten den ehemaligen Sedimentoberflächen – der Erdoberfläche, dem Meeresboden oder dem Grund von Seen. Durch die in ihnen enthaltenen Strukturen ermöglichen sie die Rekonstruktion von lange verschwundenen Lebensräumen. Es ist eine unglaubliche Zeit und eine unglaubliche Geschichte, die diese Steine in sich tragen und die selbst die Zeit des Iglus als prototypische Behausung in die Nähe unserer Gegenwart rücken. Die Hemisphäre aus Stahl und Stein wirkt nun mehr wie eine im Boden versunkene Erde und lässt an die Entstehung der Erde als Gesteinsbrocken denken.
Metamorphe Gesteine wie etwa Marmor, Schiefer oder Gneis beinhalten die Kraft grossen Drucks und grosser Temperaturen, die ihre Metamorphose aus anderen Gesteinen bewirkten. Sie verweisen ebenfalls auf die chaotischen Zustände in den Anfängen der Erde aus denen durch fortwährende Verwandlung unsere heutige Lebenswelt entstanden ist. Sie sind geradezu „Ein Archetyp des Zusammensetzens, Erhöhens, Zählens, Pressens und Auflösens, eine nicht geschweisste Nahtstelle, […] der Höhepunkt des unermesslichen Kreislaufs, an dem die Dinge teilhaben, um nicht ihre Bilder, sondern sich selbst fortzupflanzen;“2
So wie die Erde aus ihrer Mitte magmatische Gesteine gebiert, die dritte grosse Gesteinsgruppe, entweder als die nach dem Gott der Unterwelt benannten Plutonite oder als die nach dem Gott des Feuers benannten Vulkanite. Sie sind erstarrtes flüssiges Gestein und tragen noch immer die fundamentale Hitze in sich, aus der sie kommen und die wiederum verantwortlich für die ersten Lebewesen auf diesem Planeten war, die an den Rändern von hydrothermalen Quellen im Ur-Ozean entstanden. Insbesondere Kalkstein und Dolomit haben dann durch ihren hohen Karbonatgehalt, für dessen Bildung Kohlendioxid gebraucht wird, mitgeholfen, die Erde auch ausserhalb des Meeres bewohnbar zu machen, da durch ihre Bildung der Kohlendioxidgehalt der Erdatmosphäre, im Vergleich zu Venus und Mars beispielsweise, extrem gering gehalten wurde.
Aber beim in Erinnerung Rufen dieser geologischen Zeiträume geht es Mario Merz nicht um die faktischen Erkenntnise von Geschichtsforschung und Geologie: „Mir erschien die Erforschung unserer Seite der Geschichte immer unnütz, zumal ja das Ausloten nur eine unendliche, allzu logische Katalogisierung von Ereignissen gegeben hätte, die man nie zu Gesicht bekommt, die sich aber als Erkenntnis ausgibt, ohne wahrscheinlich eine zu sein.“3 Sondern vielmehr um die emotionale Präsenz eines Gefühls für eine kontinuierliche Fortentwicklung, in der man als Mensch steht, aber die umfassender ist, als bloss auf die menschliche Entwicklung bezogen. In den Worten von Merz: „Diese Kunst vereint die Nostalgie, aber bewahrt auf magische und grossherzige Weise die Vergangenheit in ihrem wütenden Hier- und Jetztsein.“5
Die im Inneren des Iglus wie um ein Lagerfeuer versammelten Steinplatten vermitteln ein Gefühl von Gemeinschaft und Austausch, die das Entstehen menschlicher Gesellschaft ermöglichten. Wie die Tische, die das Aufstehen des Menschen vom Boden und sich an den Tisch setzen verbildlichen – die Entstehung von Kultur. “
„«Platten mit Pfoten werden Tische». Die Komplexität der neuen Quoten, Menschenbeine in anthropomorpher Beziehung zu den Tischpfoten, provoziert die vorübergehende Aufhebung der geometrischen Entropie der aus Holz ausgesägten Platten. Vorübergehende Aufhebung wegen einer Neuheit.“5 Der schwache Lichtschein im Inneren des Iglus kommt von Neonzahlen die auf den Tischen liegen. Die Fibonacci-Folge, die sich auch in vielen anderen Werken von Mario Merz findet, ist Symbol natürlichen Wachstums, einer Weiterentwicklung und Verfeinerung.
„Aber welches vitale Gefüge im neuen Haus lässt zu, das Haus von innen nach aussen zu dehnen? Es ist möglich, dieses Gefüge in einer Vorrichtung aus Tischen, die sich im Zustande der Ausdehnung befinden, auszumachen. […] Die Tische sind der intellektuelle und praktische Raum über dem Boden. Die Tische, Vorrichtung für intellektuelle und praktische Ausdehnung, werfen in Zukunft die Trennmauern nieder und leiten praktisch, also künstlerisch-architektonisch weiter. Das Haus entfaltet sich in Übereinstimmung mit der Zukunft.“6
Die Tische als Symbol der Kultur streben wie der vernunftbegabte Mensch aus dem Iglu hinaus und in die weite Welt, um seinen Wissensdurst zu befriedigen und sich ein Bild zu machen, von allem, was ist. Die Tische streben auch in die den Iglu umgebende Architektur, anstatt ihn nach aussen hin abzuschliessen, als Zufluchtsort, als Schutz; er dehnt sich aus in den Raum und lädt den Raum (und die sich darin befindlichen Besucher) ein, sich in ihn auszudehnen.
Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Iglus von Mario Merz ist dieser nur oben mit Steinen gedeckt und gibt den Blick durch das Iglu hindurch frei und öffnet sich gegenüber dem ganzen Raum. Urs Raussmüller hat ihn in seiner Einrichtung in Basel mit zwei anderen Werken ohne Titel von Mario Merz aus den Jahren 1985 und 1989 zu einer gemeinsamen Raumsituation verbunden.7 Erst so können vielfältige Bezüge zwischen den Werken wahrgenommen werden und neue Bedeutungen und Zusammenhänge entstehen.
Wie wenn die Steine, vor geologischen Zeitaltern entstanden, in Verbindung treten mit dem langen Tuch, das sich daneben auf der Wand ausbreitet, und in der ungegenständlichen, kraft- und farbenvollen Malerei die Ansätze einer Kosmogonie erkennen lassen. Ein Entstehen der Welt aus dem Ursee heraus in ein Gewirr von Formen und Farben. Oder wenn man den Blick in die andere Richtung lenkt, und das Krokodil aus Pappmaché näher zu kommen scheint, als Zeitgenosse bereits der Dinosaurier, steinalt, unverändert seit Urzeiten, eine Verbindung zu einer vergangenen Welt, doch im Diesseits angekommen, fragmentarisch, aktuell.8
Aber Mario Merz will uns nichts lehren über Krokodile, Geochronologie oder die Entstehung der Welt. Seine Kunst lehrt uns, dass wir ein Teil sind eines Prozesses der Fortentwicklung der Welt und dass dieser Prozess uns beeinflusst, aber auch von uns beeinflusst werden kann. In seinen eigenen Werken hat Mario Merz diesen Prozess vollführt, indem er Teile aus unterschiedlichen Werken kombinierte und Neues entstehen liess; keinen statischen, abgeschlossenen Begriff des Kunstwerkes pflegte als unveränderliches Bildnis, sondern einen dynamischen, wandelbaren. Seine Werke sind Anregung, selbst aktiv in den grossen Prozess einzutreten, aus dem auch sie entstanden sind, statt seine Werke nur zu betrachten und als Repräsentation von etwas oder eine Aussage zu sehen. Denn dies heisst „das Bild des Dinges mit dem Ding zu verwechseln, ist das schlechte Gewissen des modischen Unnützen und der Faulheit, eine träge unausweichliche Fata Morgana des Unnützen.“9
Die Publikation „Mario Merz: Senza titolo (Coccodrillo)“ vom selben Autor über ein weiteres Werk aus der Mario Merz Einrichtung in den Raussmüller Hallen finden Sie hier.
06.06.2018
Bild 1,3: Fabio Fabbrini, © Raussmüller; Bild 2: Jürgen Buchinger, © Raussmüller
Für Mario Merz © Mario Merz / 2020, ProLitteris, Zurich.
1 Mario Merz. Voglio fare subito un libro/Sofort will ich ein Buch machen. Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg: Sauerländer 1985, S. 275.
2 Ebd., S. 49.
3 Ebd., S. 55.
4 Ebd., S. 105.
5 Ebd., S. 209.
6 Ebd., S. 235.
7 Vgl. Jürgen Buchinger. Mario Merz: Senza titolo (Coccodrillo). Mario Merz Series no. 8, hg. v. Urs Raussmüller und Christel Sauer. Basel: Raussmüller Publications 2013.
8 Vgl. ebd.
9 Merz 1985, S. 48–49.