„So viel Phantasie wie möglich“
von Christel Sauer
Mario Merz
Senza titolo, 1989
Mischtechnik auf Baumwollnessel, Stahl, Steine, Neonzahlen, Lehm, Stühle
266 x 1443 x 500 cm
Raussmüller Basel
1989 hatte Mario Merz zwei Einzelausstellungen in grossen amerikanischen Museen: im Frühjahr im Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles und im Herbst im Solomon R. Guggenheim Museum, New York1. In beiden Fällen bezog er seine Einrichtung auf die Architektur, und die Wirkung der Ausstellungen war entsprechend unterschiedlich. In New York bot sich Merz die Spirale des Wright-Baus als willkommene Grundstruktur an, während es in Los Angeles darum ging, drei neutralen grossen Räumen des neuen Museums2 durch seine Installationen eine Prägung zu geben. Im Katalog der MOCA-Ausstellung3 beschreibt die Kuratorin Mary Jane Jacob, wie Merz seine gesamte Ausstellung am Ort entwickelte, wie er auf die Stadt reagierte und seine Werke spezifisch für das Gebäude auswählte. «Wie Stanzen in einem Gedicht sind die Räume mit innerem Rhythmus und Harmonie angelegt; wie einzelne Wörter in einem poetischen Vers ist jedes Element der Ausstellung offen für eine Vielfalt von Deutungen…»4
In der South Gallery des MOCA entstand Senza titolo. Es war das einzige Werk der Ausstellung, in dem die Malerei eine Rolle spielte. Mit ihrer Grösse und Farbigkeit setzte sie einen starken Akzent in der Einrichtung. Anders als im Fall der anderen Werke hatte Merz das fertige Gemälde aus Italien mitgebracht5. Mit seiner Länge von gut 14.40 m nahm es eine ganze Wand des Museumsraums ein. Merz befestigte das Tuch locker mit Stahlnägeln und hängte es so, dass es sich vom Boden aus in die Höhe und Breite ausdehnte. Das Gemälde zeigt vier Halbkreise, von denen einer, links, für sich steht, während die drei anschliessenden sich überschneiden. Durch die tiefe Hängung der Leinwand scheinen sie sich wie Berge aus dem Boden zu erheben. In ihrer Umrissform korrespondierten sie in der Ausstellung mit den Iglus, die Merz in die Räume gestellt hatte. In ihrer Farbigkeit setzten sie sich jedoch von allen anderen Werken ab.
Merz hat ein Bild von Licht und Schatten gemalt, von dunklen Höhlen, in denen sich eruptiv Organisches zu entwickeln und auszudehnen scheint, während sich in der Hemisphäre daneben unter einem hell-grauen Bogen eine suggestive, rosa-violette Tiefe öffnet. In den benachbarten Formen ist die rosige Farbe in viel Schwarz eingeschlossen und von einem dramatischen malerischen Geschehen überlagert. Vom dunklen Grund der «Höhlen» heben sich wie gekräuseltes Wasser blaue Flächen ab. Daraus hervor erwachsen in reichen Schattierungen grün und gelb gesprenkelte Gebilde – versehen mit schwarzen Tupfern und spitzen, weissen Linien, die wie eindringende Lichtblitze wirken und die wuchernden Formen einzubinden scheinen. Die Malerei ist spontan und voller Energie, mit Schichten von Farben und unterschiedlichen Techniken. Man sieht, dass die Grösse des Tuchs nicht ausreichte, um dem Schwung des Malens gewachsen zu sein: Am oberen und rechten Rand sind zwei Halbkreise angeschnitten; sie setzten sich vermutlich auf der Wand fort, auf der Merz die Leinwand bemalte.
Das Gemälde ist jedoch nicht das ganze Werk. Im Zuge der Einrichtung in Los Angeles gab Mario Merz dem Bild eine Extension in den Raum, indem er es durch eine Anzahl von Objekten bereicherte. Am unteren Rand der Leinwand verläuft eine schmale blaue, in Schwarz übergehende Wellenlinie – wie eine Andeutung von Wasser. Unmittelbar daran anstossend schloss Merz auf dem Boden ein Feld von 18 Stahlplatten an. Sie liegen in zwei ungleich langen Reihen mit der Schmalseite zum Bild und in den Raum. Durch ihre bläuliche Schattierung und die Reflexion ihrer glänzenden Oberflächen scheinen sie die Vorstellung der Wasserfläche fortzusetzen. Die Idee zur Verwendung der Stahlplatten kam dem Künstler, wie Jacob schreibt, als er ihren Gebrauch bei Strassenarbeiten in Los Angeles sah6. Auf dem Boden vor dem Gemälde erinnert nichts mehr an diese Funktion; die Platten verbinden sich zu einem glatten, spiegelnden Areal. Das Bild an der Wand scheint in den Raum zu fliessen und unmittelbar in die Realität überzugehen.
Auf das Plattenfeld stellte Merz in einer Diagonalen hintereinander fünf Holzstühle mit roten Sitzen und zwei quaderförmige Stahlgestelle, von denen eines die Reihe anführt. Die Stühle – als Gegenstand immer auch ein Verweis auf den Menschen, der sie benutzt – hatte er in einem Restaurant der Stadt gefunden7. Merz bestückte alle Teile mit aufgestellten gebrochenen Steinplatten, wie, um dem Ganzen eine kompaktere Erscheinung zu geben8. Man denkt sofort an einen Spielzeug-Zug, wie ihn Kinder spontan aus verfügbaren Gegenständen bauen. Unter den Stühlen und in den Gestellen montierte Merz neun leuchtend rote Neonzahlen. Sie entsprechen der Fibonacci-Reihe, beginnen mit der Acht und enden mit der Zahl 6109. Gehalten werden sie von Tonballen, deren Plastikverpackung – wie die Stahlplatten – das Rot reflektiert. Die Farbe der Neonzahlen wirkt als reine Energie, wie Feuer, das den Zug antreibt. Sie strahlt auf das Bild und den gesamten Umraum ab und gibt dem Werk eine zusätzliche Ausdehnung. Das wieder entspricht der Progression der Zahlen und der Bewegung in den offenen Raum, mit der sich «der Zug» von seinem Ausgangspunkt entfernt.
«… each element … is open to a variety of interpretations …» hat Mary Jane Jacob geschrieben und gleich mit Beispielen belegt. Sie spricht in ihrer Beschreibung des Gemäldes von «organischen Bildern» auf der Leinwand – mit der Erscheinung von «aufgeschnittenen Früchten, der Form von Iglus oder Erdhügeln»10. Merz habe diese Formen verwendet, um die Illusion von Bergen hervorzurufen und den Hintergrund für eine grössere Landschafts-Szene zu schaffen. Sie gibt dem Gemälde damit die Funktion einer phantasievollen Kulisse, vor der sich das eigentliche Geschehen abspielt. Tatsächlich liegt es nahe, bei dem Werk an eine Landschaft zu denken, die mit einem Zug durchquert wird. Jacob sieht die Inspirationsquelle in der kalifornischen Umgebung mit Meer und Hügeln. Bedenkt man jedoch, dass das Gemälde nicht in Los Angeles entstand – vielleicht nicht einmal im Gedanken daran – sind auch ganz andere Deutungen vorstellbar.
Mario Merz hat sich immer mit Phänomenen der Zeit beschäftigt: «Mein Werk ist immer mit der Zeit verbunden.»11 Das reicht oft weit in die Vergangenheit zurück – an die Ursprünge des Lebens und die Zeit davor, wie sie in den Schöpfungsmythen alter Kulturen geschildert wird: die Entwicklung der Welt aus dem Chaos, das Entstehen der kosmologischen Ordnung und das Erwachsen des Organischen aus der Energie der Grundsubstanzen. «Unser Standpunkt, am Ende dieses Jahrhunderts, besteht darin, absolut alle grossen Mythen der Menschheit von früher wieder aufzunehmen. Ich bin überzeugt davon, dass mit diesen grossen Mythen auch die Phantasie wieder mit Macht eingeführt wird.»12 Die Motivation der Phantasie – sowohl der Künstler als auch der Rezipienten – hält Merz für notwendig, um die Kunst mit einer Öffnung aus festgefahrenen Normen zu versehen. «Vor einiger Zeit konnte man der Phantasie misstrauen, heute muss man erneut so viel Phantasie wie möglich in die Kunst einbringen.»13
Es ist ein Merkmal der Kunst von Mario Merz, dass sie direkt die Energie überträgt, die ihn dazu antreibt, sie zu schaffen. So zeigt sich die Kraft des «prähistorischen Windes» in äusserst dynamischer Malerei, mythologische Tiere treten als spontane Neuschöpfungen in Erscheinung, und um die Dunkelheit des Urgrunds zu erhellen, wird das Licht von Neonröhren eingesetzt. 1985 entstand ein Gemälde von fast 25 Metern Länge, das – als Ablauf von Zeit – Urformen des Organischen aus dem Wasser als Schlangenwesen Land bevölkern lässt. Über die gesamte Länge ist das Bild in zwei Hälften geteilt – eine Referenz an den babylonischen Mythos von der Zerteilung des Urwesens Tiamat in Himmel und Erde?14 «Es gibt viele Dinge aus der Vergangenheit, die in meine Arbeiten einfliessen, aber ich will diese Dinge nicht benennen, denn es geht mir um den Einfall, den ich in einem bestimmten Augenblick habe.»15 Mit dieser Offenheit sind Merz’ oft rätselhafte Werke tatsächlich Angebote für die Phantasie, und die Betrachter sind frei, in der Wahrnehmung eigene Bilder entstehen zu lassen.
Das trifft auch auf Senza titolo aus Los Angeles zu. Ohne Titel fordert das Werk die Imagination der Rezipienten heraus. So fühlte sich zum Beispiel ein Betrachter durch das Rot der Neonzahlen an einen Lavafluss erinnert und sah in den umgebenden Steinen die verdichtete Energie des Naturphänomens. Eine ganz andere, intuitiv Merz‘ Verlangen nach einer Belebung der alten Mythen entsprechnede Assoziation löste das Gemälde aus: einen Bezug zur Kosmogonie des Hesiod16. Sie entspricht Merz’ Verlangen nach einer Belebung der alten Mythen. Der griechische Dichter Hesiod beschrieb um 700 a.C. in seiner Theogonie, wie zuerst das Chaos, die «gähnende Leere des Raumes» herrschte, aus dem die «breitbrüstige Gaia», die Erde, entstand. Aus dem Chaos gingen neben Gaia und der Urmacht Eros auch die drei Dunkelheiten Erebos, der finstere Grund, Tartaros, die Unterwelt, und die Nacht, Nyx, hervor. Die fruchtbare Gaia erzeugte neben unzähligen Geschöpfen17 auch hohe Berge und tiefes Meer. Sie «gebiert den gestirnten Himmel, Gebirge, Wiesen, Felder sowie die Tiefe, das Innenmeer …Damit ist das physische Universum vollendet.»18 Vielleicht verkörpert Merz‘ Bild tatsächlich einen elementaren Akt des Hervorbringens von Welt.
Berge und Wasser sind Elemente einer Landschaft, und dies ist sicher die nächstliegende Deutung von Merz‘ Gemälde. Sie lässt sich auch einfach mit dem Geschehen verbinden, das vor dem grossen Tuch stattfindet. Auch dieses ist ein Stimulus für die Phantasie: Der kleine Zug, sofern man die lineare Konstruktion als solchen ansieht, ist ein einleuchtendes Bild für ein dynamisches Fortbewegen – das Prinzip von Leben. Der Abstand zum Ausgangsort nimmt zu und die Geschwindigkeit der Bewegung in der Vorstellung auch. Die Energie, die das Gefährt antreibt, erhält in der Progression der intensiv roten Neonzahlen unmittelbar Form; sie ist nicht nur dargestellt, sondern effektiv vorhanden. «Deshalb habe ich mit Neon gearbeitet: … ich will die Elektrizität ins Bild aufnehmen, ich will nicht sagen, meine Arbeit ist Elektrizität. Ich will Elektrizität in die Neue Landschaft von heute einführen.»19
Die physische Präsenz realer Elemente in Bildern, die oft einen metaphysischen Hintergrund haben, stellt Merz’ Werke ganz unmittelbar in die Gegenwart. Die Gegenwart ist die eigentliche Bühne, auf der seine vielfältigen Hinweise auf die existentiellen Zusammenhänge Gestalt annehmen. «Die Kunst kennt das Alltägliche, es ist ihr wertvoll wegen des enormen Materials, das es ihr liefert. Darum muss ich als Künstler das Alltägliche lieben, sonst verliere ich das Bewusstsein. Gerade der Verlust des Bewusstseins aber ist das Problem unserer Epoche. Es geht also um das Bewusstsein jenseits des Alltäglichen, das ich mit dem Alltäglichen und durch das Alltägliche gewinne.»20
Merz hat seine Ausstellung in Los Angeles mit einer Widmung versehen, die vier Aspekte der im MOCA installierten Werke in den Fokus rückt – Ort, Pflanze, Tier und Mensch: «Für L.A. / Alles für die Zypresse / Alles für das Krokodil / Alles für die fünf Stühle»21. Die fünf Stühle wurden nach dem Ende der Ausstellung zusammen mit den Steinen, den Gestellen und anderen Gegenständen nach Italien geschickt. Die schweren Stahlplatten blieben in L.A. Das Gemälde befand sich für eine Reihe von Jahren in Japan, bevor es nach Italien zurückkehrte. Dort war es in Mailand in einer Installation ohne Stahlplatten zu sehen, was die Aktion vor dem Bild von dem Geschehen auf der Leinwand trennte und dem Ganzen die Spannung nahm. Urs Raussmüller führte die Teile wieder zusammen und erstellte Senza titolo in Basel erneut in der Komplexität, die Mario Merz seinem Werk 1989 in Los Angeles gegeben hatte. Das Feld war wieder geladen, die Energie der verschiedenen Ebenen, der phantasievollen Formen und Inhalte konnte ineinanderfliessen, das Werk strahlte seine Vitalität und Grösse aus, und der gesamte Raum begann zu knistern.
07.01.2021
Fotos: Dominic Michel, © Raussmüller
Für Mario Merz © Mario Merz / 2020, ProLitteris, Zurich.
1 «Mario Merz at MOCA», Los Angeles, 26. Februar – 5. Juli 1989; «Mario Merz», The Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 28. September – 26. November 1989
2 Der Neubau wurde 1986 eröffnet. Architekt war Arata Isozaki.
3 Mario Merz at MOCA, Los Angeles, 1989; hrsg. von Bruno Corà und Mary Jane Jacob. Der Katalog dokumentiert die Einrichtung mit vielen Farbfotos.
4 Jacob, a.a.O., S. 17
5 Jacob, S. 26. Wann und wo das Gemälde entstand, ist nicht belegt. 1986 und 1987 entstanden verschiedene, teils grossformatige Zeichnungen, die auch das Motiv der miteinander verbundenen Halbkreise zeigen.
6 Jacob, S. 26
7 ebenda
8 Die Steinplatten stammen aus dem Vorrat, der Merz für seine Iglus zur Verfügung stand; vgl. Jacob, S. 26.
9 Die Zahlen sind 8, 13, 21, 34, 89, 233, 377 und 610. Von Anfang an fehlt die Zahl 144 in dieser Reihe.
10 Jacob, S. 26
11 Auszüge aus einem Interview mit Mario Merz, geführt von Suzanne Pagé und Jean-Christophe Ammann, Februar 1981; in: Mario Merz, Exh. Cat. ARC, Musée d’art moderne de la Ville de Paris (Mai – September 1981), Kunsthalle Basel (Juli – September 1981); Katalog ohne Paginierung
12 Paris-Basel 1981
13 ebenda
14 Senza titolo, 1985, Mischtechnik auf Baumwolltuch, 267 x 2470 cm; Raussmüller, Basel
15 Mario Merz in: Parkett Nr. 15, Zürich 1988, Sagt ich’s oder sagt ich’s nicht?! Auszüge aus Gesprächen mit der Redaktion, Dezember/Januar 1987/88; S. 78
16 Hesiod, Theogonie, um 700 a.C.; im Folgenden zitiert nach: Otto Schönberger, Übersetzer und Hrsg., Stuttgart (Reclam) 1999
17 Z.B. Uranos, den Himmel, der sich über sie legt und befruchtet, die Titanen, Kyklopen und viele andere, teils schreckliche Wesen
18 Paul Feyerabend, Naturphilosophie; hrsg. von Helmut Heit und Eric Oberheim; Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2009; S. 188
19 Paris-Basel, 1981
20 Parkett, 1988, S. 76
21 Kat. MOCA, 1989, S. 15