„Sehnsüchte und futuristische Kühnheiten“

„Sehnsüchte und futuristische Kühnheiten“

von Christel Sauer

Mario Merz
Virgilius, memoria futurista1, 1988
Eisen, Blei, Bienenwachs, Stahl
Höhe: 200 cm / Durchmesser: 400 cm
Raussmüller Basel

Die bleibedeckte Halbkugel steht kompakt und verschlossen im Raum und lässt keinen Blick in ihr Inneres zu. Auch die eingebaute Form aus gelbem Wachs – eine Tür? – bietet keine wirkliche Öffnung, sondern allenfalls das Versprechen eines Zugangs. Anders als andere Werke von Mario Merz wirkt dieser Iglu kaum wie eine Behausung; er scheint viel mehr die abschirmende Verhüllung einer verborgenen Situation zu sein. Ein Schlüssel zum Eintritt ist der Name Virgilius2 im Titel. Er lässt in der Phantasie unweigerlich das Bild eines Abstiegs in die Unterwelt entstehen – und die Vorstellung von Stufen, die im Innern des Blei-Iglus trichterförmig immer tiefer in die Erde führen. Dante3, als unsterblich geltender Dichter des späten Mittelalters und Begründer der italienischen Sprache in der Literatur, hat sich in seinem epochalen Werk «Göttliche Komödie»4 den römischen Dichter Vergil zum Führer für seinen Weg durch die neun Kreise der Hölle gewählt. Vergil, lateinisch Virgilius, war ein gelehrter und seit der Antike verehrter Poet, dem im Mittelalter sogar magische Fähigkeiten zugesprochen wurden. Sein Epos «Aeneis»5 hatte dem römischen Weltreich unter dem Imperator Augustus eine Entstehungsgeschichte und dem späteren Italien eine Basis seiner Identität beschert. Auf einer mythischen Vergangenheit hatte Vergil mit homerischer Kraft die Errungenschaften seiner Zeit und die Vision einer Zukunft aufgebaut. Er hatte die lateinische Sprache zu einer Blüte gebracht wie später Dante die italienische. Zudem war er mit dem Gang durch die Unterwelt vertraut, was Dante gut dreizehnhundert Jahre später dazu inspirierte, sich seiner kundigen Führung anzuvertrauen: Auch Vergils Held Aeneas war in das Schattenreich hinabgestiegen, um mit einer Vision zu den Lebenden zurückzukehren.

Es gibt aber noch eine andere Seite von Virgilius, die seiner bukolischen Dichtung. Vergil liebte das Landleben und widmete ihm Verse und Abhandlungen6. Mit seiner eigenen tiefen Beziehung zur Natur nannte Merz ihn den «Dichter der Wiesen und Hirten». In einem Gedicht mit dem Titel «Das Schloss aus Blättern ist eine ideale Architektur»7 (1982) spricht Mario Merz von der «Sehnsucht der süssen Verse Vergils» und von «der Geschichte der Sehnsüchte», in der die Historie sich selbst vergisst. «Die Zeit ist die Jahreszeit, der Duft der farbgesättigten Blätter…», und «die Malerei der Blätter ist direkt gelebtes Leben». Die Wahrnehmung des Gegenwärtigen in der Natur war für den Künstler Merz – wie für Vergil – ein Antrieb für das schöpferische Tun. Der Rhythmus ohne Geschichte von Werden und Reifen weckte in ihm Empfindungen, die er in den Versen des römischen Dichters wiederfand. Merz spricht in seinem Gedicht von der Kunst als einer Form der Hingabe, nennt das Malen «Kunst des Sakralen» und erinnert an Vergils «Verlangen nach Frieden und Andacht». Die Malerei versteht er als «der Blätter Altar» – errichtet «für einen mythischen Gott der Jahreszeiten». Merz’ poetischer Text bringt zum Ausdruck, mit welcher Wirkung die «geheimnisvollen» Farben der Blätter in ihm «Sehnsüchte und futuristische Kühnheiten» heraufbeschworen.

In Merz’ Gedicht taucht der Begriff des «Futuristischen» erstmals in einem Zusammenhang mit Vergil und mit «Sehnsüchten» (oder Erinnerungen) auf – so wie später wieder in dem rätselhaften Titel dieses Iglus. Im Kontext von Merz’ Versen erhält die Verbindung von Erinnerung und Zukunft, die sich im Titel zunächst wie ein Widerspruch liest, plötzlich einen Sinn. Die «futuristischen Kühnheiten», durch die Farben der Natur ins Gedächtnis gerufen, lassen eine Epoche lebendig werden, in der italienische Künstler den Aufbruch in eine neue Zeit zelebrierten. Mit revolutionären, zum Teil exzentrischen Forderungen verherrlichten sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dynamik und technischen Fortschritt, gaben der Kunst neue Formen und (italienischen) Künstlern ein neues Selbstbewusstsein. Die Erinnerung an die Futuristen, ihre Kunst und frühen Manifeste, macht deutlich, welches Potential für Veränderung in der Entwicklung von Visionen liegt. Unter dem Aspekt dieser Kapazität, durch Visionen Prozesse auszulösen und die Voraussetzungen für ein neues Bewusstsein zu schaffen, lässt sich durchaus eine kühne Verbindung zwischen Virgilius als Begründer eines neuen (römischen) Geschichtsbilds und dem Engagement des frühen Futurismus für eine moderne Zeit herstellen.

Eine andere Verbindung gründet auf dem elementaren Bedürfnis des Künstlers nach Inspiration. Mario Merz bezog sie vor allem aus der Natur, aus Poesie und Kunst. Er fand sie bei Vergil und – mit den «farbgesättigten Blättern» der herbstlichen Bäume vor Augen – auch in den Formen und Farben der futuristischen Malerei: «Das Gelb befreit sich vom Rot und vom Grün mit leidenschaftlichem Ungestüm…». Und er fand sie in der Geschichte als Massstab für die eigene Zeit. Anders als die kämpferischen Futuristen lehnte Merz die Vergangenheit nicht ab, da an ihr das Prinzip von Entwicklung und Fortschreiten erst offensichtlich wird. «Die Bilderverehrung der Vergangenheit ist voller Gegenwartsdynamik»8 und «strömt stürmisch, aber feierlich / aus den wunderbaren Formen der Kubisten und Futuristen…» In Merz’ Geschichtsbild verbinden sich die Epochen durch die Energie der jeweiligen Gegenwart. Sie liefert den Antrieb für den Fortschrittswillen, der die Zukunft gestaltet. Und so fand er Vergil auch in der Dichtung des aufstrebenden Amerika wieder: «Man entdeckt Vergil im Atem Amerikas und Manhattans bei Walt Whitman9…» – in der Verknüpfung aktueller Umbrüche mit Traditionen und Naturverbundenheit. Merz’ Überzeugung galt dieser Ganzheitlichkeit von Geschichte und visionärer Gegenwart, in der die Natur eine zeitlose Konstante und die Kunst ein Gradmesser ist. In dem Erspüren der Zusammenhänge erkannte er die schöpferische Kraft, die er bei Vergil bewunderte und die ihm auch im Futurismus begegnete. Der Titel seines Iglus erinnert daran. Auch in Merz’ eigenem Schaffen findet sich diese Kraft.

Der expressive Iglu «Virgilius, memoria futurista» entstand im April 1988 in Japan für eine Einzelausstellung des Künstlers im Institute of Contemporary Arts (ICA) in Nagoya10. Merz hat dort einen Monat lang gearbeitet, um Werke herzustellen, die den grossen Räumen der Institution entsprachen. Unter anderem hat er einen ausladenden, spiralförmigen Tisch gebaut, den er wie den Iglu mit Bleiblech bedeckte. Die Fläche des Tischs gibt dem Blei jedoch eine andere Wirkung als die Halbkugel des Iglus. Auf dem Tisch wirkt das schwere Material wie eine graue Decke, die locker darüber geworfen wurde, während es den Iglu wie eine Haut überzieht. Mit dieser Schutzschicht begegnet der Blei-Iglu dem Licht wie ein Schirm dem Regen, seine Rundung nimmt es auf und gibt es auf breiter Fläche wieder ab. Das Licht bringt das Blei zum Glänzen, nimmt ihm die Strenge und schenkt ihm eine farbige Lebendigkeit, ohne die Geschlossenheit der Form aufzuheben. In eines der acht Segmente, aus denen Merz’ Iglu besteht, ist ein blattförmiges Element aus Bienenwachs eingesetzt – die erwähnte Andeutung eines Zugangs zum Inneren der Halbkugel. Der Farbton des Wachselements erweckt einen Eindruck von Wärme, und die Opazität des Materials suggeriert ein schwaches Eindringen von Licht in das Innere des Gehäuses. Doch wie das Blei dient auch das Wachs dazu, fest zu verschliessen und Innen und Aussen zu trennen. Die Wachsform fügt sich organisch in die Rundung der bleiernen Halbkugel ein, sodass dieser Iglu tatsächlich die Vorstellung einer geheimnisvollen, hermetisch verschlossenen Innenwelt verkörpert.

Technisch gesehen besteht das Werk aus acht gebogenen und zum Zenit der Halbkugel spitz zulaufenden Dreiecken. Sie gehen von einem Grundkreis mit einem Durchmesser von vier Metern aus und sind eine Konstruktion aus Stahlrohren, die mit Drahtgitter bespannt und mit Bleiblech überzogen sind. Der eingefügte Wachsteil ist das einzige andersartige Element in der sonst homogenen und nur durch die Trennlinien der Segmente und silbern schimmernden Lötnähte gegliederten Blei-Skulptur. Wachs ist ein Material, mit dem Merz oft und schon früh gearbeitet hat. Er hat seine Formbarkeit und Farbe in unterschiedlichen Dimensionen und Zusammenhängen zur Wirkung gebracht, häufig in Verbindung mit anorganischen Materialien, gelegentlich auch rein – wie bei der grossen Wachsspirale, die er 1981 im Museum Haus Lange, Krefeld, mit der Architektur von Mies van der Rohe verband. Die Wachsform in seinem Blei-Iglu ruft unter anderem die Wachsplatten in Erinnerung, die Merz 1966/67 über Regenmäntel hängte, welche er mit einer Neonröhre wie mit einer Lanze durchstiess. Auch das wie Stoff auszurollende Bleiblech hat Merz wiederholt verwendet, bei Iglus und bei Tischen, grossflächig oder als Attribut. Beide Materialien sind formbar und können unter Hitze ihre Erscheinung verändern oder gar auflösen. Kalt und in Form gebracht sind sie traditionell als Mittel des Versiegelns und Verschliessens benutzt worden. Doch Blei ist ein giftiges Metall, und seine Verwendung dem Menschen oft feindlich – man denke an die Bleikammern in Venedig oder die Bleikugeln der Kanonen – während Bienenwachs als nährendes und angenehm duftendes Naturprodukt positive Empfindungen hervorruft. Merz spielt mit diesen dialektischen Aspekten über die ästhetischen Wirkungen der Materialien hinaus und zielt auf die Assoziationen, die sie auslösen.

Der verschlossene Blei-Iglu mit seiner klaren Kontur und geheimnisvollen Ausstrahlung hat den Künstler offensichtlich beschäftigt, denn für seine Retrospektive im New Yorker Solomon R. Guggenheim Museum stellte er 1989 – ohne Titel – eine kleinere Variante seines Werks her11. Schon 1986/87 hatte er mit Blei und Wachs einen Iglu gebaut, allerdings noch ohne die ganzheitliche Wirkung seines «Virgilius»; den Segmenten der Kuppel hatte er kubische Elemente aufgesetzt, die in der Art von Mansardenfenstern aus dem Rundbau hervorragen12. Merz hat mit diesen Werken Architekturen in den Raum gestellt, die eine dezidierte Geschlossenheit verkörpern – in der Form wie in den Materialien. Mit seiner räumlichen Präsenz und kompakten Erscheinung ist «Virgilius» ein Prototyp für dieses Phänomen. Keine andere Iglu-Version in Merz’ Oeuvre ist mit gleicher Absolutheit reine, in sich ruhende Hemisphäre. Umso interessanter ist die zusätzliche Dimension, die der Künstler dem Werk durch den Titel verlieh. Denn mit der knappen, komplexen Bezeichnung «Virgilius, memoria futurista» öffnet er den Zugang, den die äussere Erscheinung des Iglus verwehrt, auf einer anderen Ebene: Er erweitert die physische Aussagekraft in den imaginären Bereich und setzt mit der Wirkung auf die Sinne der Betrachter auch einen dynamischen Prozess in ihren Köpfen in Gang. «Ich glaube, der Iglu hat zwei Seiten, eine konkrete und eine eher gedankliche.»13 Im Fall dieses Werks fordern die Seiten sich gegenseitig heraus, und ihre gebündelten Kräfte hinterlassen im Bewusstsein der Rezipienten tiefe Eindrücke.


07.09.2020
Für Mario Merz © Mario Merz / 2020, ProLitteris, Zurich.

1 Übersetzt: Virgilius, futuristische – oder: zukunftsbezogene – Erinnerung.

2 Publius Virgilius Maro, 70 – 19 a.C., römischer Dichter.

3 Dante Alighieri, 1265 Florenz – 1321 Ravenna, italienischer Dichter.

4 Göttliche Komödie (Divina Commedia), ca. 1307 – ca. 1321 entstanden; 3 Bücher (3 Jenseitsreiche: Hölle, Fegefeuer, Paradies) mit insgesamt 100 Gesängen; Erstdruck 1472.

5 Aeneis, 29 – 19 a.C. (Vergils Tod); unvollendet; 12 Bücher mit ca. 10’000 hexametrischen Versen

6 Um 40 v.Chr. schrieb Vergil zehn Hirtengedichte, die als Eklogen oder Bucolica bekannt wurden. Bald danach verfasste er die Georgica, Abhandlungen über den Landbau, die er seinem Gönner Maecenas widmete.

7 Mario Merz, Das Schloss aus Blättern ist eine ideale Architektur, 1982 (italienisch: Il castello di foglie è un’architettura ideale), in: Mario Merz, Voglio fare subito un libro / Sofort will ich ein Buch machen; Aarau, Frankfurt a.M., 1985; S. 102/103. Erstveröffentlichung in Domus 634, Milano, Dezember 1982. Auch die folgenden Zitate stammen aus diesem Gedicht.

8 In der deutschen Textversion wird idolatria del passato missverständlich mit Vergötterung der Vergangenheit übersetzt.

9 Walt Whitman, 1819 – 1892, amerikanischer Dichter und Journalist; sein Hauptwerk Leaves of Grass (Grashalme) erschien erstmals 1855.

10 Mario Merz, Institute of Contemporary Arts (ICA), Nagoya; 23.4.-19.6.1988; mit Katalog.

11 Das Werk Senza titolo, 1989, mit einer Höhe von 150 cm und einem Durchmesser von 300 cm, befindet sich seit 2004 in der Sammlung des Kunstmuseum Winterthur.

12 Das Werk mit dem französischen Titel Celui qui est en plomb (Der, der aus Blei ist) von 1986-87, mit den Massen 300 x 160 cm, gehört zur Sammlung des Carré d’Art, Musée d’art contemporain in Nîmes.

13 Mario Merz in einem Interview, geführt im Februar 1981 von Suzanne Pagé und Jean-Christophe Ammann; im Ausstellungskatalog Mario Merz, ARC, Musée d’art moderne de la Ville de Paris (Mai – September 1981), Kunsthalle Basel (Juli – September 1981); nicht paginiert.