Raum und Zeit für Neue Kunst

Raum und Zeit für Neue Kunst
Die Hallen für Neue Kunst als Konsequenz eines veränderten Kunstverständnisses

von Christel Sauer

Die Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen waren ein Manifest für die Kunst einer Generation, die ein Bewusstsein für die Rolle des Einzelnen in einem allgemeinen Prozess des Wandels herbeiführen wollte. In einem transformierten Industriebau waren in beispielhafter Präsentation wegweisende Installationen von Künstlern zu erleben, die der Erscheinung und Funktion von Kunst einen bahnbrechend neuen Stellenwert gegeben haben.

Als Werk des Künstlers Urs Raussmüller verkörperten «die Hallen» selbst das Prinzip des innovativen aktiven Vorgehens. Raussmüllers klare, offene Architektur und die unkonventionelle Präsentation der Werke brachte die Kunst in exemplarischer Weise zur Entfaltung. Das «Modell Schaffhausen» hatte internationale Ausstrahlung und bewirkte ein verändertes Verständnis von «Museum».

Die Hallen für Neue Kunst entstanden zwischen 1982 und 1984; bereits 1983 führte Raussmüller die erste langfristige Einrichtung mit ca. 50 Werken von Robert Ryman durch. Die Wirkung seines Konzepts und seiner Räume auf die beteiligten Künstler war ausserordentlich motivierend. In der New York Times war zu lesen: Wenn Sie wirklich daran interessiert sind, sehr gut präsentierte Werke von höchstem Kaliber zu sehen, dann ist es notwendig, einen Besuch nach Schaffhausen zu unternehmen.

Christel Raussmüller Sauer war von Anfang an die engste Mitarbeiterin ihres Mannes. Gemeinsam haben sie die Hallen für Neue Kunst während 30 Jahren betrieben, bevor sie die Institution 2014 schlossen und ihre Aktivitäten nach Basel verlegten. 2004, nach 20 Jahren Existenz der Hallen für Neue Kunst, hat Christel Sauer einen Textbeitrag zur Konzeption des wegweisenden Kunstorts verfasst.1 Ihr Text wird hier in leicht revidierter und gekürzter Form wiedergegeben. Um seine Unmittelbarkeit zu erhalten, wurde darauf verzichtet, ihn nachträglich in die Vergangenheitsform zu setzen.

2012 erschien die Publikation «Eine Entstehungsgeschichte – Das Kapital Raum 1970-1977 & Die Hallen für Neue Kunst Schaffhausen», die im Raussmüller Webshop erhältlich ist.


 

In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat in der westlichen Welt ein fundamentaler Umbruch zu einem neuen Kunstverständnis stattgefunden. In einer breiten Bewegung ging es darum, für neue Inhalte neue Formen zu entwickeln – nicht nur in der Kunst, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das Bedürfnis nach einem Wandel generierte ein visionäres Potential, das sich in Europa wie den USA beispielhaft in der Kunst veranschaulichte. Auf beiden Kontinenten – wenn auch auf unterschiedliche Weise – wurde die Kunst als ein Mittel der Aufklärung begriffen und mit einer aktiven Rolle im Kontext eines umfassenden Öffnungsprozesses bedacht. Getragen von der Überzeugung einer veränderungsfähigen Gesellschaft, sahen Künstler ihre Aufgabe darin, auf das Bewusstsein der Betrachter einzuwirken. Sie schufen Werke, die in ihrer Aussage und Erscheinung gängige Erwartungen ausser Kraft setzten und machten sie zu Auslösern von Einsichten und kreativen Erfahrungen.

Die Kunst jener Zeit – ungeachtet ihrer Komplexität bald schon vereinfacht als Minimal Art und Konzeptkunst, Arte Povera, Prozesskunst usw. etikettiert – begegnet den Betrachtern mit unerwarteter physischer Direktheit. Meist dreidimensional und von sperriger Präsenz breiten sich die Werke als sachlich präzise Reihungen oder unkonventionell gefertigte Strukturen auf Boden oder Wänden aus; gelegentlich sind sie auch fest damit verbunden. In ihren Materialien sind sie eine Absage an herkömmliche Wertvorstellungen und in den Ausmassen immer wieder eine Herausforderung an die Wahrnehmung. Sie bestehen aus vorgefertigten Elementen wie Neonröhren und Bausteinen (Minimal Art) oder aus Fundstücken des Alltags und der Natur (Arte Povera). Ohne Sockel und Rahmen sind sie weder Bild noch Skulptur und werden, eher unbeholfen, Installation genannt. Seit dem erweiterten Kunstbegriff2 dieser Zeit ist die Installation zum Schlüssel für die Medien- und Materialvielfalt der folgenden Generationen geworden.

Tatsächlich hat die Kunst in der Aufbruchstimmung um 1970 eine vorher nie gekannte Freiheit erworben. Da das Ziel des künstlerischen Vorgehens nicht mehr das Kunstobjekt als solches war, sondern der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess seiner Rezipienten, konnte ein Kunstwerk im Prinzip jede beliebige Form annehmen.3 Entscheidend war, dass es funktionierte. Das Kunstwerk war zu einem Instrument geworden, dem in der allgemeinen Strategie der Sensibilisierung eine aktive Rolle zukam. Die Intensität, die es dafür benötigte, bezog es aus dem hohen Grad seiner Unmittelbarkeit: die Realität wurde zum Massstab seiner Substanz. Künstler wie Carl Andre, Jannis Kounellis oder Bruce Nauman reagierten nicht mehr abbildend auf die Welt, sondern schufen Werke, die als eigene Realität in Erscheinung traten. Die Betrachter sahen sich Tatsachen gegenüber, deren Aussehen und Wirkung auf den Eigenschaften der Werke selbst beruhten. Mehr noch: die Elemente des Realen – wie Raum, Licht, Zeit und die gesamte Umgebung – wurden zu Bestandteilen dieser Kunst. Und das schloss auch die Betrachter mit ein.

Nie zuvor in der Kunstgeschichte waren die Betrachter in vergleichbarer Weise in die Konzeption von Kunstwerken einbezogen worden wie zu dieser Zeit. Sahen sie sich bislang nur als Adressaten von Kunst, fanden sie sich plötzlich als Beteiligte in einen Vorgang eingebunden, dessen Ziel sie selbst waren. Sie standen Werken gegenüber, die sie zur direkten Nutzung animierten. Das stellte Anforderungen an die Betrachter, denn jetzt mussten sie aktiv werden. Die Neue Kunst setzte sie buchstäblich in Bewegung. Durch ihre physische Beschaffenheit motivieren die Werke ihr Gegenüber, genauer hinzusehen, den Standpunkt zu wechseln und sich so auf eine Kommunikation einzulassen. Dabei macht ihnen die Kunst nichts vor. Denn alles, was es für die Erfahrung des Kunstwerks braucht, ist faktisch und sichtbar vorhanden. Es gibt keine Illusion – doch unter Umständen ein existentielles Wahrnehmungserlebnis. Gerade dies schliesst aber auch eine Absage an Vorurteile ein. Denn diese Kunst liefert weder schnelle (Bild-)Botschaften, noch lässt sie sich passiv konsumieren. Und sie ist auch nicht einfach zu handhaben – aufzustellen und wieder wegzuräumen. Sie erfordert Zeit und Raum für ihre Wirkung.

Urs Raussmüller und Robert Ryman, „Advancing the Experience“, 2008-2014

Mit ihren neuen Eigenschaften erweisen sich die Werke dieser Umbruchszeit als Widerstand gegen einen bequemen Umgang mit der Prestige- und Handelsware Kunst. Aber sie sind auch dessen Opfer. Nicht für die Museen geschaffen, konnten sie kaum irgendwo erfahren werden, und als das Interesse an dieser Kunst zunahm, waren einige Werke schon nicht mehr vorhanden.4 Die Forderung nach Raum, der ihrer Präsentation und Lagerung gerecht würde, widersprach der Ökonomie der Kunsthäuser. Andererseits waren die Künstler nicht immer in der Lage, ihre Arbeiten im Anschluss an Ausstellungen aufzubewahren. Sofern die Galeristen über ausreichenden Platz verfügten und von der Bedeutung ihrer Künstler überzeugt waren, sorgten sie – oft mehr schlecht als recht – für den Erhalt der Werke. Sammler gab es anfänglich nur wenige. In den meisten Fällen erwarben sie eher kleinformatige Stücke, Fotografien oder Objekte, die an den Wänden ihrer Häuser unterzubringen waren.

Dazu kam, dass der zum Teil labile Charakter der Werke durch die spontanen und ohne Anspruch auf Langlebigkeit vorgenommenen Verbindungen von Materialien den Zeitgenossen nicht unbedingt nahelegte, dem Bestand solcher Werke eine Zukunft zu geben. Den meisten Kunsthistorikern, in der Regel an traditionellen Kriterien für die Beurteilung von Kunst geschult, fehlten die Voraussetzungen, um die neuen Entwicklungen und ihre voraussichtliche Relevanz richtig bewerten zu können. (Die Beschäftigung der Kunstwissenschaft mit künstlerischen Phänomenen der Gegenwart ist relativ jung und erst seit der massiv gewachsenen merkantilen Bedeutung von Kunst verbreitet.) Restauratoren wandten sich ratlos ab, und Kuratoren beschränkten ihr Engagement bestenfalls auf die Durchführung zeitlich befristeter Ausstellungen. Selbst in einer Zeit, in der die Leistungen ihrer Urheber bereits erkannt und gewürdigt wurden, waren die Werke kaum in grösseren Zusammenhängen und vor allem nicht langfristig zu sehen. Der Diskurs über die neuen Entwicklungen in der Kunst wurde hauptsächlich auf theoretischer Ebene, in Kunstzeitschriften und Katalogen, geführt.

Die gegen die Institutionen gerichtete Haltung der Künstler erwies sich tatsächlich als Bumerang für die Rezeption ihrer Werke, als es darum ging, ihnen die nötige Präsenz zu verschaffen. Auch die Künstler selbst waren sich allmählich bewusst geworden, dass ihre unangepassten Schöpfungen ein Recht auf Bestand und Wirkung hatten. Vor allem aber mussten diese Werke physisch erfahrbar sein, wenn sie ihre Funktion als Instrument erfüllen sollten. Der unfreiwillige Verzicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Installationen und das gleichzeitige Interesse an den theoretischen Manifesten von Künstlern und Kritikern hatten zur Folge, dass die physischen Qualitäten der Neuen Kunst zunehmend ausser Acht gerieten. Meist schlecht und ohne Bezug zu ihrer räumlichen Ausdehnung reproduziert, wurden die Werke oft als Kopfkunst und intellektuelle Konstrukte missverstanden und provozierten auf der Basis ihrer fehlenden Präsenz unter anderem Reaktionen jüngerer Künstler als Kunst aus dem Bauch.5

Es bestand also ein Bedürfnis nach Strukturen, die im Einklang mit den Zielen und Eigenschaften der Neuen Kunst standen. Jahrelang nur latent zu spüren, äusserte sich dieses Bedürfnis vor allem im Unbehagen der Künstler über den Mangel an geeigneten Orten für ihre Werke. Es entstanden zwar zunehmend neue Museen für Gegenwartskunst, doch legten diese den Hauptaspekt ihres Interesses weniger auf den künstlerischen Inhalt als auf ambitiöse Architektur. Die Künstler befürchteten nicht ohne Grund die Unterordnung ihrer Werke unter architektonische Vorgaben, die im Widerspruch zu ihren Überzeugungen standen. Nach der Eröffnung der neuen Staatsgalerie Stuttgart 1984 äusserten sich Joseph Beuys und Jannis Kounellis zum Beispiel betroffen über das Selbstverständnis des Architekten James Stirling, der die Nutzung seiner Räume für solche Kunst eine Zumutung für die Architektur genannt hatte. Der Künstler, der später am entschiedensten die Konsequenz aus diesen Umständen zog, war Donald Judd, der sich in Marfa, Texas, seinen eigenen durchgestalteten Kunstort schuf.

So war die Situation, als wir zwischen 1982 und 1984 die Hallen für Neue Kunst errichtet haben. Urs Raussmüller, selbst Künstler, hatte früh die Notwendigkeit erkannt, den neuen, räumlichen Werken seiner Kollegen einen Wirkungsort zu geben.6 Um den entscheidenden Schritt zu vollziehen, der dann zur Gründung der Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen führte, bedurfte es jedoch eines besonderen Anlasses. Diesen lieferte der Künstler Joseph Beuys. Beuys brauchte einen Raum, mit dem er seine 1980 an der Biennale Venedig gezeigte Installation Das Kapital Raum 1970–1977 dauerhaft verbinden und der Öffentlichkeit zugänglich machen konnte. Raussmüller hatte ihm diesen Raum schon vor der Biennale versprochen – damals noch nicht wissend, wie weitreichend seine Zusage war. Erst in Venedig erkannte er die Anforderung, die er für die Realisierung des Werks erfüllen musste. Seine Suche nach einem geeigneten Gebäude endete schliesslich in Schaffhausen, wo er in einem Trakt der stillgelegten Schöller-Kammgarnfabrik nicht nur den passenden Raum baute, sondern darüber hinaus eine ganze Institution schuf.

Die Hallen für Neue Kunst7 – der Name ist Programm – sind aus Überzeugung für eine Kunst entstanden, die direkt und nicht fiktiv ist. Das Verständnis der Werke als Tatsachen war die Vorgabe für die Gestaltung der Institution. Alles sollte sein können, was es ist – die Kunst, der Raum, das Licht, und nicht zuletzt auch die Besucher. Raussmüllers Vorgehen bei der Realisierung der Hallen für Neue Kunst beruhte weder auf architektonischen noch auf kunsthistorischen Überlegungen, sondern auf einem künstlerischen Verhalten, bei dem das intuitive Moment, nicht das geplante, das Ergebnis prägt. Vermutlich liegt in diesem Vorgehen der Grund für die ganzheitliche Wirkung der Hallen für Neue Kunst, wie sie sich auch nach zwanzig Jahren noch überträgt. Jedenfalls war es entscheidend für die Reaktion der beteiligten Künstler. Robert Ryman zum Beispiel zeigte sich spontan bereit, den Bestand seiner Gemälde durch bedeutende Leihgaben zu ergänzen, Mario Merz errichtete auf dem verfügbaren Platz mit Tischen und Iglus ein ganzes Villaggio, und Joseph Beuys war motiviert, zusammen mit Urs Raussmüller in dessen dafür geschaffenen Raum Das Kapital Raum 1970–1977 zu einem Vermächtnis zu gestalten, das über sein Leben hinaus wirken sollte.

Hallen für Neue Kunst mit Werken von Mario Merz

Es war von Anfang an Teil des Konzepts, ohne die Begriffe und Einrichtungen auszukommen, die ein offenes Vorgehen gefährdet hätten. Wir haben weder in der Kategorie Museum, noch Sammlung oder Ausstellung gedacht, sondern versucht, eine passende Plattform für die künstlerischen Leistungen zu errichten, die der Kunst seit den sechziger Jahren eine neue Dimension erschlossen hatten. Auf der Basis einer minimalen Betriebsstruktur und mit viel Platz für die Werke sollte ein Kunstort im Sinne der Künstler entstehen. Die Sachlichkeit der Architektur sollte der Kunst den Freiraum geben, den sie in ihrer Konzeption und Erscheinung beansprucht, und ihr erlauben, sich uneingeschränkt zu entfalten. Vom Freiraum der Kunst sollten auch die Besucher profitieren, denn es besteht kein Ablauf und keine Hierarchie in der Präsentation dieser Kunst. Das Verständnis der Werke als Mittel, um auf das Bewusstsein der Betrachter zu wirken, war der Schlüssel für das Selbstverständnis der Institution. Die Hallen für Neue Kunst sollten sich selbst als ein Werk vermitteln, das in der Lage ist, kreative Prozesse zu übertragen.

Im Rückblick scheint die Wahl eines Industriegebäudes für die Ausstellung raumbezogener Kunst eine naheliegende Entscheidung gewesen zu sein, aber damals war sie wirklich eine Erfindung. Kunsthallen und Museen entwickelten sich anfangs der achtziger Jahre zu den beliebtesten Bauaufgaben der Architekten, und die Verwendung alter Strukturen, die sich nicht gerade als Palais oder Burg für eine kulturelle Nutzung anboten, lag noch ausserhalb der gängigen Vorstellungen. Die Hallen für Neue Kunst wurden also zu einem Prototyp für die Umnutzung von Fabrikgebäuden zu Kunstmuseen und hatten in einer Zeit der aufwändigen, oft politisch motivierten Museumsbauten umgehend grosse Wirkung. In finanzieller Hinsicht verkörperten sie eine bemerkenswert günstige Lösung und übten zudem starken Einfluss auf die ästhetischen Konzepte nachfolgender Projekte aus. Inzwischen können sie sich rühmen, unter konzeptionellen, inhaltlichen und gestalterischen Aspekten international als Inspirationsquelle gedient zu haben.8

Urs Raussmüllers Raum für Das Kapital Raum 1970-1977

Die Hallen für Neue Kunst repräsentieren einen Ausschnitt aus der Kunstgeschichte, wie er in dieser Konzentration in Europa einmalig ist. Als Schwerpunkt für die installative Kunst der ersten Generation bieten sie einer Kunstrichtung Raum, die wie keine vor ihr den Raum zu ihrem Material gemacht hat. An dieser Entwicklung waren damals viele Künstler beteiligt, aber nur wenige haben sie durch unabhängige Konzepte geprägt. Die Entscheidung über die Auswahl der Werke haben wir gegen eine breite Darstellung des Zeitphänomens zu Gunsten von zwölf Wegbereitern getroffen.9 Der reichlich vorhandene Platz wurde nicht durch viele Künstler besetzt, sondern so in grössere Bereiche unterteilt, dass für jeden der Protagonisten eine eigene charakteristische Werkübersicht entstanden ist. Auch wenn die Anzahl und Anordnung der Werke jeweils unterschiedlich ausfallen, ist die Einrichtung immer so, dass sich die Intentionen der Künstler vermitteln. Selbst unvorbereiteten Besuchern ist es möglich, sich ohne Führung oder Lektüre, allein durch die Betrachtung der Werke ins Bild zu setzen.

Inzwischen sind viele Museen dazu übergegangen, ihren Kunstbestand mit Schwerpunkten zu präsentieren.109 Zur Zeit der Gründung der Hallen für Neue Kunst war das Konzept der Beschränkung dagegen eine Überraschung. Durch die Konzentration auf die Wegbereiter und die Dichte ihrer Werkgruppen entstand insgesamt kein Qualitätsgefälle. Alle vertretenen Künstler haben in der kunstgeschichtlichen Bewertung eine vergleichbare Bedeutung. Alle hatten in den sechziger Jahren mit eigenen Konzepten den Veränderungsprozess der Kunst eingeleitet, und jeder für sich hatten sie ihren Werken ein unverwechselbares Erscheinungsbild gegeben. Die Konzentration auf einen relativ kurzen Zeitraum und eine limitierte Künstlerzahl erwies sich als besonders aufschlussreich, denn der Aspekt des Ausschnitts aus der Kunstgeschichte betont die Komplexität, die diesen Ausschnitt auszeichnet.

Hallen für Neue Kunst mit Werken von Mario Merz

Unvoreingenommenen Betrachtern wird in den Hallen für Neue Kunst ziemlich bald schon klar, dass die Auswahl und Einrichtung der Werke nicht der Bestätigung kunsttheoretischer Zuordnungen dient, sondern, im Gegenteil, der Bekräftigung unabhängiger Positionen. Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Erneuerungswillens der Künstler zeigt sich die Ausprägung der individuellen Konzeptionen mit zunehmender Deutlichkeit – nicht nur im Vergleich amerikanischer und europäischer Auffassungen, sondern auch innerhalb der engeren Beziehungsnetze. Der Begriff Arte Povera erweist sich angesichts der reichen und bemerkenswert unterschiedlichen Schöpfungen von Jannis Kounellis und Mario Merz sichtbar als irreführend, und der scheinbare Schlüssel Minimal Art verhindert eher den Zugang zur Differenziertheit der Oeuvres als dass er ihn öffnen würde. Stattdessen offenbaren sich die Hallen für Neue Kunst als reicher Fundus für unerwartete Entdeckungen. Allein die vergleichende Betrachtung der Materialien und ihrer Verwendung führt zu einer Fülle von Erkenntnissen, welche die Funktion der Kunstwerke als Auslöser von Wahrnehmungsprozessen bestätigen und den Besuchern das Bewusstsein einer bereichernden Erfahrung vermitteln.

In den Hallen für Neue Kunst wird die Grosszügigkeit der architektonischen Situation leicht zum Massstab für die Dimensionen der ausgestellten Kunst. Gelegentlich übersehen die Besucher die tatsächlichen Ausmasse der Werke, weil deren Proportionen im Verhältnis zum Raum so selbstverständlich wirken. Wenn ein Gemälde von Robert Mangold wie Light Ellipse/Grey Frame (1989) mit einer Ausdehnung von 2,15 x 4,50 Metern eine Wand hält, so wirkt das ganz normal. Chiaro Oscuro (1984), der kleinste der ausgestellten Iglus von Mario Merz, eine dunkle, durch Neon-Zahlen nach Fibonaccis Additionsreihe erhellte Reisig-Hemisphäre, besitzt einen Durchmesser von 5,50 Metern, offenbart aber im Kontext der Hallen für Neue Kunst eine überraschende poetische Zartheit. Auch bei Bruce Naumans Floating Room (1972) wird sich der Betrachter erst im Innern des Raums bewusst, dass das Werk einem Zimmer von fast 24 Quadratmetern entspricht. Der Bezug zur eigenen Körpergrösse wirkt dann wie ein Weitwinkel, der die Wände auseinanderrückt und die für Nauman typische Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung unterstreicht. Solche Überraschungen sind umso grösser, als sich die Werke im Umfeld der Architektur ganz undramatisch zeigen – so, als seien ihre Ausmasse eine Selbstverständlichkeit.

Hallen für Neue Kunst mit Werken von Bruce Nauman

Eine besondere Rolle in unseren Überlegungen hat die Dimension der Zeit gespielt. Die Kunst sollte nicht nur einen Ort, sondern auch Zeit für ihre Wirkung haben. Anders als es in Kunstmuseen zunehmend üblich wurde, ging es hier nicht um die Durchführung eines wechselnden Ausstellungsprogramms, sondern darum, ausgewählten Werken Präsenz zu geben. Noch unbestätigt, wie sie waren, sollten sie ihre Gültigkeit beweisen können. Aber vor allem sollte ihre statische Qualität zur Geltung kommen. Die Hallen für Neue Kunst funktionieren, so gesehen, als ruhige Situation für eine vertiefte Kunsterfahrung. Die Betrachter haben die Möglichkeit, die ausgestellten Werke unter wechselnden Voraussetzungen zu erleben. Wechselnde Voraussetzungen entstehen durch äussere Einflüsse wie das sich ändernde Tageslicht, aber mehr noch durch die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Betrachter selbst. Das schliesst ihre Stimmungen und Erfahrungen, die wachsende Vertrautheit mit den Werken und die daraus resultierende Wahrnehmung der eigenen Veränderung mit ein.

In ihrer Wirkungsweise unterscheidet sich die Neue Kunst von den gerahmten Werken früherer Epochen. Da der Rahmen fehlt, ist das Werk seinem Umfeld viel unmittelbarer ausgesetzt. Anders gesagt: das gesamte Umfeld eines Kunstwerks wird zu seinem Rahmen. Das führt dazu, dass letztlich nicht nur das Kunstwerk exponiert wird, sondern dass sich in der Begegnung mit dem Werk auch die Betrachter exponieren. An der statischen Präsenz des Kunstobjekts, mit den subtilen Veränderungen einer prinzipiell gleich bleibenden Umgebung, können sie den Prozess ihrer zunehmend differenzierteren Wahrnehmung sehen. Die Voraussetzung dieser Einsicht ist die Dauer, die sie dem Prozess der Wahrnehmung widmen, sei die Begegnung mit dem Kunstwerk einmalig oder wiederholt. Gerade für die Wirkung dieser Kunst, deren Ziel explizit in der Erweiterung des Wahrnehmungsvermögens besteht, ist die Zeit eine ebenso elementare Kondition wie der Raum, das Licht und die Bereitschaft der Betrachter, sich auf die erweiterte ästhetische Erfahrung einzulassen.

Mit ihrer künstlerischen Ladung können die Hallen für Neue Kunst als Energiespeicher und Impulsgeber angesehen werden. Wie die Werke, die sie zeigen, basieren sie auf dem Durchbrechen konventioneller Kriterien und Kategorien. Nicht als Museum gegründet, haben sie sich als Wirkungsraum für Kunst behauptet, der der unangepassten Energie einer weit tragenden Entwicklung entsprach. Inzwischen besitzen beide, die Hallen und die Kunst, für die sie errichtet wurden, einen internationalen Stellenwert. Die Kunst hat sich als fester Bestandteil der Kunstgeschichte etabliert, und die Hallen für Neue Kunst sind zu einem Modell für Museen im Sinne der Künstler geworden.

 


04.10.2019

Text: © 2004-2019 Christel Sauer / Raussmüller

1 Dieser Text erschien erstmals 2005 in: Roger Fayet, Hrsg., Im Land der Dinge. Museologische Erkundungen (Interdisziplinäre Schriftenreihe des Museums zu Allerheiligen Schaffhausen), Band 1, Baden: 2005.

2 Der Ausdruck erweiterter Kunstbegriff stammt von Joseph Beuys. In der Folge wurde der Begriff auch allgemein auf die konzeptuelle und physische Erweiterung von Kunst angewendet.

3 Sol LeWitt schrieb 1969 in seinen Sentences on Conceptual Art: «Ideen allein können Kunstwerke sein. Sie sind Teil einer Entwicklung, die irgendwann einmal ihre Form finden mag. […] Da keine Form ihrer Natur nach einer anderen überlegen ist, kann der Künstler jede gleichwertig benutzen, von (geschriebenen oder gesprochenen) Wörtern bis hin zu physisch Vorhandenem.» (vgl. Gerd de Vries, Hrsg., Über Kunst – On Art, Köln: 1974)

4 Zum Beispiel konnten ursprüngliche Pyramids (1959) von Carl Andre nicht erhalten werden. Sie bestanden aus Tannenholz und fanden zum Teil, laut Auskunft des Künstlers, während eines kalten New Yorker Winters als Brennholz Verwendung.

5 So wurde unter anderem die neo-expressionistische Malerei der Jungen Wilden genannt, die sich gegen Ende der 1970-er Jahre entwickelte.

6 1978 hatte Urs Raussmüller in Zürich die Ausstellungshalle InK, Halle für internationale neue Kunst, errichtet und bis 1981 wegweisende Ausstellungen mit 82 europäischen und amerikanischen Künstlern durchgeführt. Trotz grosser internationaler Resonanz musste InK danach wegen Umnutzung des städtischen Gebäudes aufgegeben werden.

7 Neue Kunst heisst nicht: Kunst von jungen Künstlern. Der Ausdruck bezeichnet die Kunst um 1970, von der hier die Rede ist. (vgl. Anne Rorimer, New Art in the 60s and 70s. Redefining Reality, London: 2001)

8 Das Andy Warhol-Museum in Pittsburgh beruft sich in seinem 1994 zur Eröffnung erschienenen Buch gleichen Titels ausdrücklich auf die Hallen für Neue Kunst als ein Vorbild. Auch das 1988 eröffnete Dia Center for the Arts in New York orientierte sich an den Hallen für Neue Kunst. Die Reihe der Nachfolger reicht bis in die Gegenwart. In Deutschland zum Beispiel gehören unter anderem dazu: das Neue Museum Weserburg, Bremen, das Ludwig-Forum für Internationale Kunst, Aachen, die Deichtorhallen, Hamburg, der Hamburger Bahnhof und die gerade entstehenden Rieck-Hallen in Berlin.

9 Die Künstler sind: Carl Andre, Joseph Beuys, Dan Flavin, Donald Judd, Jannis Kounellis, Sol LeWitt, Richard Long, Robert Mangold, Mario Merz, Bruce Nauman, Robert Ryman, Lawrence Weiner.

10 Vgl. Nicholas Serota, Experience or Interpretation. The Dilemma of Museums of Modern Art, London: 1996/2000, S. 42: “Ein einflussreiches Vorbild sind die Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen […]»