Extending Perception: Robert Mangold

Extending Perception: Robert Mangold

von Urs Raussmüller

Urs Raussmüller hat seine Einrichtungen von Kunstwerken immer wieder zum Anlass genommen, um seine Sicht der jeweils spezifischen Situation mitzuteilen und andere an seinen Empfindungen, Erfahrungen und Gedanken teilhaben zu lassen. Die folgenden Äusserungen sind Auszüge aus einem Gespräch, das am 17. August 2011 in der Ausstellung Robert Mangold: Extending Perception stattfand, die Raussmüller in den Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen durchführte und die bis zur Schliessung der Institution 2014 dort zu erleben war (vgl. dazu die Bildstrecke auf dieser Website).


Robert Mangold, Attic Series XIII, 1991, 244 x 305 cm, Acryl und Graphit auf Leinwand
© Robert Mangold / 2019, ProLitteris, Zürich. Foto: Fabio Fabbrini, © Raussmüller

… Wenn ich in dieser Mangold-Einrichtung von Erkenntnis spreche, spreche ich nicht von einer Erkenntnis über die Mangold-Werke, sondern eher durch sie. Ich spreche dann von einem Prozess, der durch diese Gemälde ausgelöst wird. Sie haben in gewisser Weise die Wirkung einer Initiation, die uns Dinge und Zusammenhänge erkennen lässt, die wir ohne die Werke nicht wahrgenommen hätten. Und damit können wir jetzt auch anfangen darüber zu sprechen, warum diese Sache, genannt Kunst, Sinn hat. Was bewirkt sie? Was geschieht mit uns? Kunstwerke wie diese Mangold-Gemälde sind ein unglaublicher Auslöser für das Erkennen von etwas, das zwar vorhanden ist, uns aber nicht bewusst war. Sicher gibt es so etwas nicht nur in der Kunst, aber hier, in unserem Bereich, haben wir es mit einem ausserordentlichen Potenzial für Erkenntnis zu tun.

Es ist ja so, dass in den Gemälden, die Robert Mangold herstellt, nichts transportiert wird – nichts im Sinne von Thema oder Inhalt. Es gibt bei diesen Werken auch nicht den „wichtigsten“ Aspekt, es gibt keine über- oder untergeordneten Partien. Nichts ist da gegeben, was irgendwo eine Dominanz erzeugen würde. Es besteht eine völlige Ausgewogenheit aller Faktoren, die diese Gemälde ausmachen. Man könnte sagen: Die Werke sind demokratisch – oder unhierarchisch, das ist vielleicht das bessere Wort.

In Mangolds Gemälden ist alles gleichwertig da. Durch den Umstand dieser Gleichwertigkeit ist auch alles verfügbar – unabhängig davon, ob wir nun jeden der Teile, die da sind, auch bewusst wahrgenommen haben. Und die Erkenntnis, dass in den Werken alles verfügbar ist, überträgt sich auch auf das, was ausserhalb davon besteht. Alles wird verfügbar. Mangolds Werke wirken in erstaunlichem Masse über sich selbst hinaus; sie verbinden sich mit ihrer Umgebung – was uns unmittelbar einbezieht. Ich meine, nicht alle Kunstwerke haben eine derartige Öffnung in sich, dass sie eine so umfassende Wirkung ausüben. Viele haben eine innere Geschlossenheit, sie wollen etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen, manche wollen belehren, andere etwas illustrieren. Dann verfolgen sie eine Absicht und haben nicht diesen Grad an Freiheit. Es ist eine grosse und seltene Sache mit dieser Freiheit…

Kürzlich habe ich etwas über den Tanz von Matisse gesagt – dieses scheinbar so schlecht gemalte Bild von 1909. Daran wird deutlich, dass eigentlich nicht das zählt, was Matisse da gemalt hat, sondern vielmehr dieser hohe Grad an Offenheit und Verfügbarkeit, mit der dieses Gemälde auf uns zukommt. Grosse Kunst ist immer frei und gesteht auch Freiheit zu. Und die kleine Kunst hat häufig Absichten, womit sie Freiheiten ausschliesst. Das, finde ich, ist ein wesentliches Kriterium bei der Wahrnehmung von Kunst. Bei Mangolds Werken und der Gleichwertigkeit aller Aspekte – innerhalb der Werke und darüber hinaus – tritt eben diese Freiheit ein.

Ich meine, das wirklich Ausserordentliche in dem, was Mangold macht, ist, dass er die Malerei an einen Punkt führt, wo die traditionellen Hierarchien nicht mehr bestehen und wo nicht mehr irgendeine Dominanz ausgeübt wird. Das lässt mir die Freiheit, mich selbst einzubringen und Erkenntnisse unvoreingenommen in mir, durch mich, entstehen zu lassen. Ich sehe die Sache jedes Mal neu und jedes Mal anders. Nie verliert das Werk an Präsenz, und doch erzeugt es in mir jedes Mal einen anderen Eindruck.

Es kommt dann ja noch dazu, dass sich die Eindrücke auch durch äussere Einflüsse ständig verändern. Beim letzten Mal habe ich das Four Color Frame Painting am Nachmittag gesehen. In diesem Licht, mit der Leuchtkraft, die sich da entwickelte, war es wirklich unvergleichlich. Am Morgen, bei Painting for Three Walls, sah ich die Leuchtkraft, die aus dem Gelb hervorkommt – und auch das war ausserordentlich. Die Werke haben eine starke Ausstrahlung. Und jedes Mal nehme ich sie anders wahr. Eigentlich sind sie so wie die Welt, wie der Himmel, der an jedem Abend anders ist.

Mangolds Farben sind im Grunde keine Farbtöne. Sie sind das Gelb eines Briefumschlags und das Grau eines Werkzeugs. Insofern sind sie sehr alltäglich. Sie erheben nicht den Anspruch, Künstler-Farben zu sein. Mangold benutzt diese gewöhnlichen Farben, um nicht das gleichwertige Gefüge, diese Selbstverständlichkeit des Ganzen zu durchbrechen. Die Farben treten in seinen Werken ebenso unprätentiös auf wie die Verjüngung der Umrissform oder die Nahtstellen der Bildteile. Alles hält sich auf dieser Ebene des Gleichwertigen und trägt dazu bei, dass nichts in den Vordergrund drängt. Und doch – deswegen? – ist das Ganze nicht spannungslos.

Und dann sieht man bei diesem Four Color Frame Painting auch noch die Wand im Bild. Die Wand an sich ist ja kein betonendes Element, aber hier ist sie zentral. Sie verbindet die Realität des Werks direkt mit dem realen Raum, in dem es sich befindet. Das Gemälde hat diese Gefügtheit, diese vier sich zu einem Rechteck zusammenschliessenden Flächen, die in der Architektur des Raums und dessen Gefügtheit eine Parallele haben. Da die Flächen Wand umschliessen, wird die Wand des Installationsorts bei den Frame Paintings effektiv zu einem Teil des Werks.

Robert Mangold, Four Color Frame Painting #6 (orange, blue, red, green), 1984, 252.5 x 183.3 cm, Acryl und Graphit auf Leinwand
© Robert Mangold / 2019, ProLitteris, Zürich. Foto: Fabio Fabbrini, © Raussmüller

Alle diese Dinge verbinden sich auf einer ganz realen Ebene. Im Einzelnen wie im Ganzen sind sie die Sache selbst. Auch die Räume hier haben keine Aspekte, die hervortreten. Also ist mit diesen Gemälden sicher nicht in dem Sinn zu verfahren, dass jetzt irgendwo eine spezifische Dynamik zu erzeugen wäre oder sonst ein Effekt. Das ist bei der Natur dieser Werke gar nicht nötig. Und so ist in dieser Einrichtung die Verbindung von Gemälden und Raum eigentlich wie von selbst zu einer Einheit, einer Ganzheit geworden – sowohl im einzelnen Raum wie in der Folge aller Räume, die wir hier haben. Und ich meine, wenn es tatsächlich eine Ganzheit ist, dann findet sich diese Ganzheit auch in jedem der Teile. Und wenn ich nun da bin, wo dieses schwarze Attic Series Painting ist – mit seiner viel kompakteren Wirkung als zum Beispiel die Frame Paintings – dann spüre ich diese Ganzheit von Werk und Raum auch hier. Also wenn ich von der Wirkung spreche, die von der Ganzheit ausgeht, dann kann ich sagen: In dieser Einrichtung gibt es keinen Anfang, es gibt keine inszenierte Steigerung, es ist alles simultan, gleichzeitig. Ich selbst bin noch von dem vorigen Raum mit Eindruck erfüllt und stehe hier an einem anderen Ort mit einem anderen Werk, aber ich empfinde auch hier diese alles umfassende Wirkung.

Ich weiss, diese Sicht der Dinge, über die wir jetzt gesprochen haben, ist eher ungewöhnlich – wo man doch die längste Zeit dem Phänomen Kunst mit einem ganz anderen Bewusstsein begegnet ist. Man hatte die Erwartung: Der Künstler will uns mit seinem Werk etwas Bestimmtes sagen, und wir sind die, die es hoffentlich ganz oder teilweise schaffen, seine Aussage zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind die Betrachter. Aber in dem, worüber wir jetzt gesprochen haben, sind wir eben nicht nur die Betrachter. Wir sind einbezogen, wir sind unmittelbar Teil der Sache selbst.

Das ist eine ganz andere Position, in der wir uns hier befinden. Die Situation geht uns direkt an. Wir sind aktiv gefordert. Sich einfach vor das Gemälde zu stellen, um es isoliert von seiner Umgebung zur Kenntnis zu nehmen, funktioniert hier nicht. Mit der distanzierten Haltung der Betrachter wird man nicht weiterkommen. Vielleicht kann man irgendeinen Kunstgriff mobil machen, eine Suggestion in seinen Wahrnehmungsvorgang einbauen, die einem sagt, was man zu sehen hat. Wenn man sich dann unsicher fühlt, zeigt das, dass die Suggestion nicht in Übereinstimmung mit dem zu bringen ist, was da ist.

Und wenn man dann plötzlich merkt, hier stimmt etwas nicht, merkt man vielleicht auch: Was nicht stimmt, bin ich mit meinen Vorurteilen, mit dieser Vorstellung, etwas hätte so zu sein, wie es das in mir Angelegte erwartet. Aber das ist hier nicht der Fall. Es ist wie im Floating Room von Bruce Nauman: Ich bin da, aber das, was ich erwarte, ist nicht da. Und nun muss ich meinen Standpunkt neu finden. Es ist einfach nicht möglich, der distanzierte Betrachter zu bleiben. Es ist nicht möglich, die Situation hier wie von aussen zu beurteilen. Man ist direkt betroffen.

Wir brauchen Aufmerksamkeit, wenn wir uns auf etwas einlassen. Das geht dann nicht einfach schnell. Die Erkenntnisse finden sich nicht an der Oberfläche. Wir müssen verstehen, dass die Phänomene eine Beschäftigung in ihre Tiefe verlangen. Das geht so weit, dass wir zum Phänomen selbst werden. Das heisst, wir haben uns so damit befasst, dass wir jetzt aus dem Phänomen heraus entwickeln und verstehen können. Wir sind auf den Grund der Sache vorgedrungen und werden quasi zur Sache selbst. Und von dort aus können wir nun in diese Komplexitäten vorstossen, ohne uns darin zu verlieren. Wir können die verschiedenen Teile, die da gleichzeitig eine Rolle spielen, auch nacheinander aufschlüsseln – vorausgesetzt, dass wir das Ganze nicht aus den Augen verlieren und von dort aus die Sache betrachten.

Dieser Vorgang ist ein Prozess. Man hört nicht auf, zum Grund der Sache vorzudringen. Aber ein bestimmtes Resultat gibt es dabei nicht. Es gibt den Grund nicht, es gibt das Absolute nicht. Diese Art der Wahrnehmung, die eine dynamische ist, führt nicht zu einem Fixpunkt, einem Resultat, mit dem man den Wahrnehmungsvorgang abschliesst. Es ist eben ein dynamischer Prozess, der, solange man lebt, nicht aufhört.

Also, ich denke, das ist der Grund, auf dem wir uns bewegen. Wenn man jetzt hingeht und anfängt zu sagen, das ist Form und das ist Farbe, dies Konstruktion und das Linie, und das ist dann noch der Farbauftrag, dann zerstört man all das, was dieses Ganze, diese Einheit ausmacht. Man beginnt die Sache zu zerpflücken, zu zerschneiden. Und durch das Zerschneiden zerstört man das Ganze. Das ist wie bei einem Hasen: Wenn Sie den Hasen seziert haben, können Sie nicht mehr erfahren, wie er herumrennt, nicht wahr?