Sol LeWitt (*1928-2007), wegweisender Künstler der Minimal Art, gilt aufgrund seiner Schriften auch als Vater der Konzeptuellen Kunst. Beide Bezeichnungen verleiten dazu, sein Werk unter dem Vorzeichen der formalen Reduktion und einer systematischen Objektivierung des Kunstwerks zu betrachten. Tatsächlich hat LeWitt mit seinem Verständnis und Vorgehen der Kunst jedoch eine bahnbrechende Öffnung in ihrer Funktion und ihren Erscheinungsformen verschafft. Dass seine Werke zudem vitale individuelle Eigenschaften besitzen, die sie deutlich über das Prinzip der reinen Variation neutraler Grundmuster erheben, konnten wir nachhaltig in unserer über drei Jahrzehnte bestehenden Einrichtung in den Hallen für Neue Kunst erfahren. 2008 haben wir unsere Eindrücke in einem Beitrag für das Buch «Sol LeWitt, 100 Views» festgehalten, das 2009 vom MASS MoCA in Zusammenarbeit mit der Yale University Press herausgegeben wurde. Ergänzt durch Bilder aus unserer LeWitt-Einrichtung 1983-2014 wird unser Text hiermit erstmals in der deutschen Fassung publiziert.
Sol LeWitt und die Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen
von Christel Sauer und Urs Raussmüller
In Schaffhausen geniessen wir das Privileg, seit 25 Jahren mit einer eindrucksvollen Gruppe von LeWitt-Werken zu leben. In einer dauerhaften Einrichtung zeigen wir Skulpturen und Wall Drawings seit 1967 und stellen mit Begeisterung fest, dass die Faszination für diese Werke ungeachtet aller künstlerischen Trends und technologischen Innovationen anhält. Mehr noch: Je komplexer sich die neuen Möglichkeiten der Bildproduktion gestalten und je demonstrativer sie angewendet werden, desto souveräner setzt sich die unprätentiöse Präsenz von LeWitts Werken ab. Mit der Einfachheit ihrer Materialien und Formen und der Unmittelbarkeit ihrer Herstellung scheinen sie eine natürliche Zeitlosigkeit zu besitzen.
Ursprünglich war es vor allem die Intelligenz der Konzeption, die uns an Sol LeWitts künstlerischem Vorgehen gereizt hat. Hier hatte einer die ewige Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter auf unkomplizierte Weise aus dem Weg geräumt. Er hatte einfache geometrische Strukturen auf den Boden gestellt und Linien mit dem Bleistift direkt auf die Wand gezeichnet. Er hatte dem Raum ein klares dreidimensionales Profil gegeben und die Fläche in ihrer Zweidimensionalität als Qualität in allen Formaten genutzt. Im Verlauf der Zeit nahmen wir dann mehr die Differenziertheit der Wirkungen wahr, die aus der Wahl der Materialien, der Bestimmung der Dimensionen und den genauen Angaben zur Ausführung resultierten. Bis heute staunen wir vor den 15 Quadraten der Bleistiftzeichnung von 1970, wie subtil sich die Grauwerte von der weissen Wand abheben, wie raffiniert sich die quantitative Zunahme der Linien vollzieht, wie das Grafit auf dem matten Kalkgrund farbig im Sonnenlicht glänzt und in welchem Mass die handwerkliche Fertigung einem scheinbar simplen geometrischen Prinzip Leben verleiht.
Zu den Qualitäten unserer Schaffhauser Einrichtung gehört die Anzahl und Bedeutung der Werke, mit denen die einzelnen Künstler vertreten sind. Die Präsentation in umfassenden Werk-Gruppen sollte von Anfang an auch ungeschulten Besuchern einen Zugang zu der künstlerischen Haltung erschliessen, die „hinter“ den Werken steht und deren Charakter und Erscheinungsform prägt. Auch sollten die Werke in den Hallen für Neue Kunst nicht nur den Platz finden, den sie brauchen, sondern ausreichend Zeit haben, um ihre Wirkung langfristig entfalten zu können. Die Auswahl und Präsentation von Sol LeWitts Werken haben wir – wie in anderen Fällen auch – zusammen mit dem Künstler festgelegt, bevor wir 1982/83 die Wände und Räume dafür bauten. Seit dieser Zeit behaupten sie sich grosszügig und bemerkenswert heiter in einem hellen Ambiente, das den Blick auf den grün vorbei fliessenden Rhein freigibt.
Mehr noch als die Skulpturen sind es in den Hallen für Neue Kunst die Wall Drawings, die sich in ihrer physischen Unmittelbarkeit als äusserst anziehend erweisen. Als überraschend unterschiedliche Lösungen für das Problem, linearen Grundmustern in Verbindung mit den Basisfarben (rot, blau, gelb plus schwarz) eine überzeugende Struktur zu geben, bilden sie eine konstante visuelle und geistige Herausforderung. Die Betrachter bewegen sich von den frühen seriellen Bleistiftzeichnungen, bei denen die geradezu mönchische Disziplin der Ausführung in Zeiten der Digitaltechnik tiefen Eindruck hinterlässt, zu den Isometric Figures von 1981, deren verblüffend plastische Ausstrahlung sich angesichts der (scheinbaren) Einfachheit der Konstruktion kaum nachvollziehen lässt. Im Raum des rot-gelb-blauen Three Part Drawing (1978) mit der explosiven Energie seiner sich überlagernden Farbstrahlen wird die Intensität dann buchstäblich körperlich spürbar und lässt jede intellektuelle Distanz in freudige Betroffenheit umschlagen.
Sol LeWitt hat immer wieder die Hallen für Neue Kunst besucht, alleine, mit seiner Familie oder Assistenten. Er wusste, dass er die Freiheit hatte, in die bestehende Einrichtung einzugreifen und sie zu verändern. 1994 hat er den Schritt vollzogen und neue Werke zur Ergänzung seiner inzwischen „historischen“ Werkgruppe entworfen. Er hat mit dem seitlichen Lichteinfall der Fensterfronten gespielt und die Reflexion des Lichts in grossen, mattes und glänzendes Schwarz konfrontierenden Wandbildern eingefangen. Wie gewaltige Wolken stehen sie auf ihrem dunklen Grund und begegnen sich als elementare Umkehrung ihres Gegenübers. Daneben hat er einen dreiseitigen Innenraum mit einem kubischen Raster von starker Farbkraft und Plastizität gefüllt. Besucher sitzen in diesem Raum und können sich nicht satt sehen an der Vielfalt und Gleichwertigkeit der Farbtöne. Sie versuchen wie bei anderen Werken das zugrunde liegende logische Prinzip zu entschlüsseln, das sich hier jedoch nicht finden lässt, da es nicht existiert. Stattdessen wächst die Bewunderung für einen Herstellungsprozess, der mit reduzierten Mitteln (den reinen Grundfarben) allein durch die Präzision der Ausführung ein Resultat von grösster Komplexität und Überzeugungskraft entstehen lässt.
Hinzu kommt die Wirkung einer sichtbaren Hierarchielosigkeit. Ohne Haupt- und Nebenaspekte, bevorzugte oder benachteiligte Bereiche sind die Werke von Sol LeWitt klare Statements eines demokratischen Weltbilds. Als solche stehen sie jedem offen. Um ihre Ausdruckskraft erfahren zu können, sind weder ein (Bildungs-)Wissen noch eine Fähigkeit zu Bewertungen gefragt. Die Werke begegnen den Betrachtern direkt und ohne Vorbehalt und sind dabei zugleich unverwechselbar profiliert in ihrer Individualität. Die Intensität, die sich den Betrachtern mitteilt, steckt bereits in der ersten, gedachten Version und erhält in der Realisierung Körper.
Dass Sol LeWitt früh schon andere in den Ausführungsprozess seiner Werke einbezogen hat, unterstreicht das intelligente Prinzip seines Vorgehens: Er relativiert die Autorenschaft (sie manifestiert sich bereits ausreichend in der Idee) zugunsten der Beteiligung einer wachsenden Anzahl internationaler und zunehmend jüngerer Assistenten. Seine gezielte Verbreitung der Kenntnisse über Techniken und Produktionsverfahren, eng verbunden mit der Forderung nach deren höchst disziplinierter Anwendung, erweist sich als elementare Kondition für ein Werk, dessen Vitalität es über die eigene Generation hinaus zu garantieren gilt.
04.01.2019
© 2008 Christel Sauer und Urs Raussmüller